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Ich terminiere eine Familie




Die ganze vierköpfige Familie hat einen Termin in der Dortmunder Augenklinik. Mutter, Vater, Tochter, Sohn. So hatten es uns die zwielichtigen osteuropäischen Augenärztinnen geraten. Ich habe nichts gegen zwielichtige osteuropäische Augenärztinnen, einige meiner besten Freundinnen sind zwielichtige osteuropäische Augenärztinnen, aber diese hier waren zudem auch nicht besonders kompetent. Zunächst versuchten sie ihr Glück mit kassenpflichtiger Diagnostik, dann bestanden sie auf teurer Zusatzleistung und waren am Ende kurz davor, uns in erdnahem Orbit an großen Sternwarten vorbeizufliegen, um mit den hausgroßen Teleskopen unsere Netzhäute zu betrachten. Es kam jedoch nicht dazu, weil sich nach stundenlangem Warten herausstellte, dass sie ohnehin vergessen hatten, mir augenweitende Drogen zu verabreichen. Schließlich fertigten sie dennoch folgendes Horoskop an: Entweder wir haben alle denselben genetischen Defekt, welcher uns mit etwas zu großen Sehnervköpfen ausstattet oder wir werden in naher Zukunft allesamt erblinden. Ich drückte meine Zuversicht aus, dass wir womöglich einfach nur ähnliche Genetik haben, immerhin sind ja einige von uns miteinander verwandt. Der Chor aus osteuropäischen Augenärztinnen jedoch empfahl, die privat zu zahlenden Zusatzdiagnostiken alle paar Wochen zu wiederholen. Um sicher zu gehen. Wir waren skeptisch. Alternativ rieten sie uns zu einem Termin in der Augenklinik.

Bild von einem tierischen Patienten
Augenarzt im letzten Jahr der Ausbildung

In aller Herrgottsfrühe, also um 7.45, nähere ich mich dem Hospital. In Dortmund stehen alle Kliniken eng beieinander, so dass ich nie weiß, welche die richtige ist. Die Mutter und ich sind getrennt, die Mutter ist also mit dem Sohn etwas früher als ich vor Ort, mit anderen Worten: pünktlich. Sie gibt mir telefonisch Bescheid, dass sie schonmal in den dritten Stock abwandern. Ich rufe die Tochter an und will wissen, ob sie unterwegs sei? Sie verbringt die Nächte bei ihrem Freund und hat das Auto der Mutter annektiert. Meist geht sie um diese Zeit erst zu Bett, so dass ich mir sicher bin, dass sie zumindest wach ist. Sie telefoniert beim Fahren und gibt auf Nachfrage zu, keine Maske dabei zu haben. Ich stelle eine Ersatzmaske in Aussicht und warte vor der Tür des Hospitals auf sie. Die Mutter informiert mich per Telefon, dass sie im dritten Stock falsch sind. Aus dem zweiten Stock erkundigt sie sich kurz darauf nach der Überweisung. Welche Überweisung, denke ich? Paypal? Unterhalt? Was? Die Augenklinik verweigert sich. Man könne uns ohne Überweisung nicht aufnehmen. Ich hatte zwar in einem vorigen Telefonat mit der Klinik erklärt, dass wir im Moment keinen Augenarzt hätten und wollte mich vergewissern, dass die Augenklinik auch wirklich alles alles vor Ort selbst machen kann. Aber behördliche Schikanen wie papierne Empfehlungsschreiben und Passbriefe mit Amtssiegel hatte ich nicht bedacht. Ich ereifere mich. Im Bermuda-Dreieck aus Arztpraxis, Krankenhaus und Krankenkasse gelten noch Regeln wie beim Hauptmann von Köpenick: Keine Papiere, keine Augen, keine Augen, keine Papiere. Nachrichten kommen per Fax. Alle digitalen Daten werden streng voneinander getrennt in bleiernen Krügen vergraben und nur unter Aufsicht eines geistlichen ans Tageslicht geholt. Die Mutter schlägt leicht ermüdet vor, die osteuropäischen Augenärztinnen um ein Fax zu bitten.


Die Tochter ist verschollen. Mutter und Sohn kommen schmallippig ans Tageslicht vor das Hospital und verkünden, es werde nichts mit dem Fax und wir hätten hier einen neuen Termin im übernächsten November. Ich trage mir das im Kalender ein. Der Sohn sagt nichts. Er ist dreizehn und spricht aus Prinzip nicht. Wir begrüßen das, denn wenn er doch einmal etwas sagt, fallen am Ende Sätze wie: „Ich hab‘ mit der SCAR auf seine Box gesprüht, bevor sie ihn gerest haben, außerdem hab ich seit der neuen Season die OG Spiderman Skin, das ist besser als seine Ulti.“ Oder so ähnlich. Mit anderen Worten, es ist herbe, wie cringe er ist, aber wallah Brudi, was willst du machen?


Die Mutter telefoniert mit der Tochter, die nicht weiß, wo sie ist. Der Sohn rät: im falschen Stadtteil. Ich tadele ihn mit einem stummen Blick, tippe stattdessen aber insgeheim auf: Münster. Die Mutter läuft los, wir laufen mit. Weil man das so macht. Weil sie immer irgendwo hinläuft, und wenn man nicht aufpasst, ist sie weg und man sieht sie nie wieder. Die Mutter ruft ins Telefon, dass die Tochter wohl vor der falschen Klinik stehe. Diese schreit zurück: "Ey, warum bauen die zwei Krankenhäuser nebeneinander?" Der Blick der Mutter trifft mich. Ich will noch fragen, was ich denn bitte damit zu tun habe, dass die Tochter so ist, als ob ich nicht vor einer halben Stunde genau dasselbe gedacht hätte, da sagt die Mutter: „Genetik“. Ich finde, das sollte sie mal den osteuropäischen Augenärztinnen sagen. Wir laufen weiter auf die Tochter zu. Der Sohn will wissen, warum wir zu ihr gehen. Die Mutter sagt, sie wisse nicht, warum wir zu ihr gehen, das sei eigentlich totaler Quatsch, und läuft weiter. Wir laufen mit. Ich könnte im Grunde wieder nach Hause fahren, denn hier im Klinikviertel würde mir bis zum übernächsten November dann doch die Zeit etwas lang. Vor der falschen Klinik ist die Familie vereint. Der durchschnittliche IQ auf dem Krankenhausvorplatz sinkt dadurch um 13 Punkte. Der Sohn muss in die Schule. Die Tochter braucht ein Attest, weil sie aus lauter Unerfahrenheit für diesen Termin dem Arbeitgeber vorgelogen hat, sie sei schlimm erkrankt und es gehe mit ihr zu Ende. Mutter und Tochter diskutieren noch aus, wer den Sohn nun zur Schule bringt. Die Mutter argumentiert, die Tochter habe Zeit, schließlich gehe diese doch ohnehin erst wieder um 17.00 Uhr zum Arzt, um sich das Attest zu erschwindeln. Die Tochter ist ertappt gibt nach. Ich drücke kurz die Tochter, dann laufen wir schnell in alle Himmelrichtungen auseinander. Gerade schreibt mir die Mutter, dass man dabei den Sohn vergessen habe und dieser nun doch allein mit der Straßenbahn in die Schule gefahren sei. Ist das normal? Für uns ja. Ich meine aber generell. Oder müssten wir uns mal untersuchen lassen?

Ich mache am besten einen Termin für uns.

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