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Macht Kultur krank?

Wie geht es Ihnen? Sind Sie gesund? Die Frage ist manchmal nicht leicht zu beantworten. Laut der WHO ist Gesundheit ein Zustand vollkommenen physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens. Ich persönlich habe solche Zustände früher nur unter Gabe von Propofol, zirca drei Sekunden vor einer Ganzkörperlähmung in Vorbereitung auf einen chirurgischen Eingriff erlebt. Im Alltag wurde es schon schwieriger.


Das Thema Gesundheit ist nicht erst dann eines, wenn man bereits beim Arzt sitzt. Bei Menschen auf der Rückfahrt von der Arbeit um 17.54 Uhr im Stau auf der B1, beispielsweise, kämen in puncto mentales und soziales Wohlbefinden bestimmt miserable Werte heraus. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung rangiert Deutschland aber bei der Frage nach subjektivem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit mit 7,5 von 10 Punkten ganz weit oben in Europa. Im Großen und Ganzen kann es dann ja mit der B1 eigentlich nicht so schlimm sein (obwohl man beachten sollte, dass die zufriedensten Deutschen in Schleswig-Holstein leben - in Sachen Verkehrsinfarkt ein eher unbeschriebenes Blatt). Subjektiv und allgemein liegen eben manchmal über Kreuz.


MACHT KUNST KRANK?


Besonders schlecht würden aber vermutlich Künstler und Künstlerinnen abschneiden, wenn man sie denn in der entsprechenden Statistik als solche befragte. Eine Studie des Instituts für Strategieentwicklung hat für bildende Künstler*innen in Berlin die prekäre Lebenssituation mit deprimierenden Zahlen belegt (und dabei auch offengelegt, dass es ein Gender Pay Gap von 28 % in der bildenden Kunst gibt). Allerdings sagen die Zahlen lediglich etwas über Honorare und Jahreseinkommen. Prekär ist jedoch für viele Künstler*innen darüber hinaus auch die Struktur ihrer Arbeit. Wenn man sich den Forderungskatalog des Ver.di Papiers „Gerechte Arbeitsbedingungen in der kulturellen Bildung“ anschaut, sieht man direkt, welche Probleme grassieren: Scheinselbstständigkeit, Unterbezahlung, unvergütete Fortbildungen, unbezahlte Wegzeiten, Materialeinsatz auf eigene Kosten, intransparente Förderverfahren mit Kurzzeitwirkung und so weiter und so fort. Da der Bereich der kulturellen Bildung sehr stark von freier Mitarbeit durch Künstler*innen aus den Bereichen Musik, Bühne und bildende Kunst getragen wird, betreffen die Arbeitsbedingungen hier unmittelbar die Frage des Wohlbefindens in der Kulturbranche überhaupt.


Aber wie sieht es mit den Arbeitsbedingungen in ihrem eigentlichen Kernjob aus? In der darstellenden Kunst weit verbreitet sind: körperlich und mental erschöpfende Proben bis zum Anschlag, Präsenz auch bei hohem Fieber und ein Berufsethos, das das Ignorieren der eigenen Gesundheit im Interesse des Bühnenbetriebs mit dem weit verbreiteten Euphemismus „Dr. Stage“ kaschiert. Denn wenn der Vorhang hochgeht, zählt nur Präsenz. Zweitbesetzungen sind gerade in der freien Szene äußerst unüblich.

Sind solche Situationen wirklich einfach der Bereitschaft geschuldet, für einen Beruf, den man mit Leidenschaft ausübt, auch Opfer zu bringen? Der oft bemühte Begriff „Selbstausbeutung“ legt ja nahe, dass man auch anders könnte, wenn man nur selbst wollte.


Die kommenden Jahre werden es zeigen. Denn durch die Corona-Pandemie ist speziell im darstellenden Bereich praktisch die Hälfte des Geldes weg. Dreißig Prozent Auslastung ist das neue Ausverkauft. Es ist der Politik und der Gesellschaft im Großen und Ganzen zwar noch nicht so recht aufgefallen, aber tatsächlich ist es für viele Bühnenproduktionen schwer geworden, den Betrieb überhaupt aufrechtzuerhalten. Für die angeblich notorischen Selbstausbeuter fällt damit das wichtigste Pflaster weg, das bislang recht notdürftig die schlechten Bedingungen überdeckte: Geld. Wenn man nun für knapp die Hälfte des Umsatzes ein weiterhin hohes Maß an Unsicherheit und Raubbau an der Gesundheit in Kauf nehmen soll, werden sich viele fragen, warum? Um sich zu retten,

könnte es sein, dass diese Menschen dann ihren Beruf zum Hobby machen. Wenn dann die Bühnen leer bleiben und noch mehr Shows als bis jetzt schon ausfallen, wird das Thema auch in einer breiteren Öffentlichkeit ankommen. Und vielleicht wird dann offenbar, dass die Kulturbranche das Problem der Gesundheit im Kunstbetrieb gar nicht nur ignoriert hat. Vielleicht fußt das komplette Marktsegment darauf, dass Menschen ihre Gesundheit langfristig ruinieren. Bleibt nur zu hoffen, dass in dem Fall dieselben Menschen beginnen, die krank machenden Strukturen aus der Branche zu entfernen - statt sich selbst.

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